Das Bundesverfassungsgericht kann es nicht

Thomas ist Professor für Rechtswissenschaften an einer bundesdeutschen Universität. Er vertritt hier seine Meinung als Privatperson, welche zum ersten Mal auf der 13. Demo der OGK am 19.12.2021 in Heidelberg vorgetragen wurde.

Am 30. November hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich aus dem Kreise der ernstzunehmenden Teilnehmer am Rechtsdiskurs erst einmal verabschiedet. Durch einen kleinen Beschluss wurde über die “Bundesnotbremse” ohne mündliche Verhandlung so entschieden, wie man es sich denken konnte, seitdem der Vorsitzende des Senats und Präsident des Gerichts, ein früherer Unternehmensanwalt und CDU-Politiker, sich und seine Kollegen ins Kanzleramt eingeladen und dort einen Vortrag zur Corona-Notlage bestellt hatte. Die Damen und Herren waren deswegen natürlich nicht befangen, sie wussten vorher schon, wie sie entscheiden sollten. Wenn man sich dennoch mit dem Beschluss zur sog. “Bundesnotbremse” befasst, dann geschieht das trotz seiner geringen Begründungstiefe aus dem darüber hinaus reichenden Grund, dass dieses Gericht das Ansehen verliert, das es in vorangegangenen Jahrzehnten errungen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Inkompetenz dargestellt; in einem Satz: Das Bundesverfassungsgericht kann es nicht. Was “es” ist und was “können” heißt, wird in fünf Abschnitten erklärt:

1. Es gibt keine Verfahrenszuständigkeit für das BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht kann die Verfassungsmässigkeit eines Gesetzes, das den Rechtsweg ausschließt, eigentlich gar nicht prüfen. Es ist dafür nicht zuständig und hätte eigentlich in der Sache gar nicht entschieden werden dürfen. Abstrakte Normen werden nur im Wege der Normenkontrollklage überprüft und die hätte nach den Stimmenverhältnissen im letzten Bundestag gemeinsam von FDP, den Grünen und der Linken hätte erhoben werden müssen. Das war politisch unmöglich. Rechtlich unmöglich ist es, ohne Anrufung der dafür vorgesehenen Fachgerichte in der Sache zu entscheiden. Genau das hat das Bundesverfassungsgericht aber getan, weil es zu auffällig und zu merkwürdig gewesen wäre, wenn die Kanzlerin ein Gesetz beschließen lässt, das niemand prüfen kann. Die Zuständigkeit begründet das BVerfG mit einem Trick. Angeblich stellten sich nur verfassungsrechtliche, keine “einfachrechtlichen” Fragen. Das ist falsch. Das BVerfG ist nicht etwa das “oberste Gericht”. Es ist eine nachgeschaltete Korrekturinstanz für Notfälle, kein Fachgericht. Fächer – das sind die allgemeinen Zivilsachen und Strafsachen, die von ordentlichen Gerichten behandelt werden und dann die besonderen wie Sozial-, Finanz- oder Verwaltungsrecht, die vor die Sozial, Finanz und Verwaltungsgerichte gehören. Corona-Schikanen müssten also vor dem Verwaltungsgericht beanstandet werden. Das setzt voraus, dass die Verwaltung sie angeordnet hat. Das möchte die Verwaltung aber neuerdings nicht so gern. Sie möchte, dass eine Versammlung in Heidelberg am besten gleich vom Bundeskanzler verboten wird und man auf eine ferne, scheinobjektive Zuständigkeit verweisen kann. Daraus wurde der österliche Entschluss zu einer Notbremse geboren, die weder bremste noch auf einer Not beruhte, aber die Leute schikanieren konnte. Diesen Hintergrund kennen alle, und auch das Bundesverfassungsgericht kennt ihn natürlich. “Einfachrechtliche” und damit fachgerichtliche Fragen gehen dahin, ob jemandem verboten werden kann, seine Wohnung zu verlassen, jemanden zu treffen, bestimmte Einrichtungen wie Schulen zu besuchen und vieles mehr, was die “Bundesnotbremse” regeln sollte. Das Bundesverfassungsgericht umgeht die Zulässigkeitsbeschränkung und zieht die Sache an sich, aber nur und einfach deshalb um sie anschließend für unbegründet zu erklären. Natürlich werfen die gesamten Schikanen der Notbremse sog. einfachrechtliche Fragen auf, die lediglich dem Zugriff der Auslegung entzogen werden sollen, indem man sie an einen willkürlichen Inzidenzwert gebunden hat. Das war ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung, den das Bundesverfassungsgericht hätte sehen müssen. Es kann nicht lesen.

2. Aufbau des Rechtsstaates: Selbstausführende Gesetze sind nicht demokratieeigen sondern Elemente von Diktaturen

Das Bundesverfassungsgericht will nicht sehen, dass es kein Blankett für Parlamentsgesetze erteilen darf. Wäre das richtig, brauchten wir gar kein Verfassungsgericht für unvorgesehene Fälle, die sich auch noch auf eine mehr oder weniger große Notlage beziehen. Die Kontrolle des Bundesverfassungsgericht richtet sich auf Maßnahmen der Verwaltung und Urteile der Fachgerichte, nur selten und ausnahmsweise auf Gesetze selbst. Der Rechtsstaat beruht darauf, dass eine Verwaltung als Exekutive die vom Parlament als Legislative beschlossenen Maßnahmen ausführt. Es darf nicht beides in eins fallen, denn beide Gewalten sind an unterschiedliche Einschränkungen gebunden. Das Parlament stellt abstrakt-generelle Regeln auf, die im Einzelfall durch sinnvolle – man sagt: “verfassungskonforme” – Auslegung so konkretisiert werden können, dass ein möglicher Verfassungsverstoß nicht auftritt. Diese Möglichkeit entfällt, wenn die Konkretisierung auf Einzelfälle wegfällt, wenn man also – wegen einer abstrakten Inzidenzzahl – so tut, als gelte alles aus sich heraus. So stellen sich juristische Laien – etwa Bundeskanzlerinnen – die Wirkung von Gesetzen vor, wenn sie meinen, das Gesetz an sich regele schon alles. So ist es aber nicht. Das Gesetz enthält abstrakte Normen, die Verwaltung oder die Bürger untereinander setzen sie im konkreten Fall um. Das ist nicht dasselbe. Es ist unakzeptabel, dass ein Bundesverfassungsgericht das nicht sieht.

3. Das BVerfG ignoriert selektiv alte eigene Urteile

Für die Begrenzung der Parlamentszuständigkeit gibt es ein Vorbild in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht selbst. Dieses Präjudiz hätte das Gericht kennen müssen. Das Bundesverfassungsgericht übergeht es aber. Zwar weiß es, was alle wissen, die sich einmal an das Bundesverfassungsgericht gewandt haben, dass nämlich die einfache Berufung auf Grundrechte nicht ausreicht. Dazu heißt es (unter Rdz. 89): “Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffene Maßnahme verletzt sein sollen.” Auf Deutsch und im Ergebnis bedeutet das: Man muss den Grundrechtsverstoß mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts selbst begründen. Dem Bundesverfassungsgericht fällt tatsächlich ein eigener Beschluss aus dem Jahre 1996 ein, in dem über Planungsrecht entschieden worden ist. Dabei ging es um die Südumfahrung der Stadt Stendal, die einst die DDR so vorgesehen hatte und die dann kurzerhand vom Bundestag nach der Vereinigung anstelle der Planungsbehörden entsprechend festgestellt worden ist. Dort finden sich die Formeln, die das Bundesverfassungsgericht bemühen möchte, auch wenn die Corona-Maßnahmen mit der Wiedervereinigung nicht vergleichbar sind. Man hätte Sachverhalte unterscheiden müssen, nicht nur Wortformeln zitieren, die sich darauf beschränken, dass es damals um “außergewöhnliche Situation” ging, in der “der unverzügliche Aufbau der Verkehrsinfrastruktur unabdingbar” gewesen sei (BVerfGE 95, 1, 23). Ein anderes Präjudiz wird unterschlagen, nämlich die zweifelhafte Genehmigung des sog. “Schnellen Brüters”, einem besonderen Atomreaktor in Kalkar durch das Land Nordrhein-Westfalen. Dort wird der Stufenbau des öffentlichen Rechts vom abstrakten Gesetz über konkretisierende Rechtsverordnungen in die notwendigen Einzelentscheidungen der Verwaltung verfassungsrechtlich begründet. Es heißt dazu: Das Grundgesetz spricht dem Parlament nicht einen allumfassenden Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zu. Es setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzzuordnung seinen Befugnissen Grenzen (BVerfGE 49, 89 124). Die Grenzen zu bestimmen, wäre Aufgabe des Bundesverfassungsgericht gewesen. Dazu war es aber leider nicht in der Lage.

4. Fehlende Tatsachengrundlage, es wurden keine Beweise erhoben

Das Bundesverfassungsgericht kann keine Grundlage für seine Entscheidung herstellen, weil die Vorarbeit dafür fehlt. Normalerweise erhebt das Fachgericht die Beweise, nicht etwa das Bundesverfassungsgericht als erste Instanz. Das wäre aber im Fall der Bundesnotbremse notwendig, weil ja der Instanzenzug willkürlich ausgeschaltet worden ist. Damit fehlt jede Rückbindung an tatsachenbasierte Wirkungszusammenhänge. Das Bundesverfassungsgericht reicht stattdessen weiter, was Regierungsstellen im Auftrag des Kanzleramts schon zusammengeschrieben haben und behandelt als gesichert, was hoch umstritten war und ist und der Aufklärung bedurft hätte. Man liest dazu:

Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der angegriffenen Regelungen konnte der Bundesgesetzgeber von einem nicht lediglich regional begrenzten Infektionsgeschehen ausgehen, das durch das Auftreten neuer, gefährlicherer Virusvarianten, steigende Infektionsraten sowie steigende Belegungsraten der Intensivstationen mit COVID-19-Patienten gekennzeichnet war.”

Das war bestritten, aber die tatsachenbezogenen Einwände werden einfach im Stil kaiserlicher Anordnungskompetenz überspielt. Man unterstellt, ohne Beweis zu erheben. Es heißt dann: Zwar gebe es derzeit deutschlandweit noch knapp 2.000 freie Intensivbetten. Angesichts der Anzahl der Intensivstationen stünde damit allerdings pro Station durchschnittlich nur noch ein Intensivbett zur Verfügung. Dieses werde aber nicht lediglich für COVID-19-Patienten benötigt, “sondern auch für andere Patientinnen und Patienten, die etwa aufgrund eines Herzinfarkts oder einer Notfalloperation intensivpflichtig seien (Wortprotokoll der 154. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit, Protokoll-Nr. 19/154, S. 10 f.)”. Man wüsste gerne, wer das an welchem Ort festgestellt hat und inwiefern “das Intensivbett” – oder sind es die Pflegerinnen und deren Bezahlung – das Grundgesetz steuert. Das Bundesverfassungsgericht kann sich auf den Grundsatz der sog. “Amtsermittlung” berufen. Es versteht jetzt Amtsermittlung offensichtlich so, dass man als Ergebnis für wahr hält, was ein Amt vorher schon so ermittelt zu haben glaubt. Die Kontrolle fällt aus. So geht es nicht.

Den Höhepunkt der Tatsachenferne erreicht das Bundesverfassungsgericht, wenn es das wiederholt, was die Kanzlerin, die eine bestimmte Schule der aktuellen Epidemiologie bevorzugte, gerne hörte. Bekanntlich regieren seit 20 Monaten die Modelliererinnen. Eine auf Tatsachen, also auf Empirie begründete Epidemiologie möchte man für überflüssig erklären, weil sie beim Rechnen stört. Man kennt die Tatsachen schon. Genau diese Einseitigkeit übernimmt das Bundesverfassungsgericht und lässt sich mit einem Scheinergebnis hören, das lautet:

Die Ergebnisse modellgestützter Untersuchungen von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch eine unter der Bezeichnung MODUS-COVID-Team arbeitende Forschergruppe bestätigten die Prognose einer weiter ansteigenden Auslastung der Intensivkapazitäten. Der dazu für die Forschergruppe in der genannten Anhörung geladene Sachverständige äußerte dort, dass vor dem Hintergrund der dynamischen Ausbreitung der Virusvariante B.1.1.7 (Alpha-Variante) nach dem Modell der Forscher eine noch höhere Belastung der Krankenhäuser zu erwarten sei als sie im Dezember 2020 bereits bestanden habe (Wortprotokoll der 154. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit, Protokoll-Nr. 19/154, S. 12 f.) – Rz. 181)”

Das ist der schon bekannte Stil des Nachsprechens von Regierungssprache. Es hat in dieser Form in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht kein Vorbild. Als Beweis gilt dann allen Ernstes die BTDrucks 19/28444 auf S. 8. Es kann einem Referendar beim Bundesverfassungsgericht auffallen, dass auf diese Weise kein Beweis zu führen ist. Die Entscheidung lässt juristische Handwerklichkeit vermissen.

5. Errichtung neuer Beurteilungsspielräume für die Regierung

Schließlich und endlich wird diese Handwerklichkeit noch durch einen weiteren Rückfall in die Frühzeit der Verwaltungskontrolle beschädigt. Tatsächlich war es früher so, dass Regierung und Verwaltung in weiten Bereichen einen Ermessens- und Beurteilungsspielraum für sich in Anspruch nehmen durften. Das war einmal so. Im Zuge der weiteren Verfassungsentwicklung sind alle diese sogenannten “Spielräume” besetzt und als nachprüfbar behandelt worden. Anders geht es, wenn man der Kanzlerin, mit der man schließlich speiste, huldigen will. Dann heißt es:

Die weitere Annahme des Gesetzgebers, es bestehe eine Schutzlücke, die aus einer nicht bundesweit einheitlich erfolgenden Auslegung und Umsetzung der in der Konferenz der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten getroffenen Beschlüsse resultiere und die bundeseinheitliche Regelung erfordere, lag innerhalb des ihm zu den sachlichen Gründen zustehenden Beurteilungs- und Einschätzungsspielraums” .

und als Beleg lesen wir dieselbe, schon erwähnte Stelle aus der BTDrucks 19/28444, S. 8 f. – Rdz. 145.

Zusammenfassung

Schon diese 5 Punkte – und es gäbe mehr – liefern ein trauriges Bild dessen, was das Bundesverfassungsgericht derzeit kann. Es kennt seine begrenzte Verfahrenszuständigkeit nicht, es kann den Aufbau des Rechtsstaats nicht verstehen, es kann sich nicht an seine eigenen Präjudizien erinnern, es kann keinen Beweis erheben und am Ende kann es nur noch Spielräume für andere errichten. Das Bundesverfassungsgericht kann es also nicht – oder wurde da etwas übersehen? Richtig: Das Bundesverfassungsgericht kann der Regierung und den sie tragenden Fraktionen freie Hand lassen.

Prof. Dr. Thomas S.

5 Gedanken zu „Das Bundesverfassungsgericht kann es nicht

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  2. Dieses Video ist schockierend. Es zeigt eine seit 1932/33 in Deutschland nie gekannte Rechtsprechung in ekelhafter juristischen Anmaßung, das man sprachlos ist!

  3. Pingback: BVerfG als elitärer Sargnagel des Rechtsstaates | QPress

  4. Pingback: Heidelberg für den Rechtsstaat. Bericht zur Demo vom 19.12.21 - Offene Gesellschaft KurpfalzOffene Gesellschaft Kurpfalz

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