Jura-Prof.: Ein juristischer Skandal jagt den nächsten. Es herrscht Willkür statt Kompetenz

Thomas S. ist Professor für Rechtswissenschaften an einer Universität und war lange Zeit Vorsitzender Richter an einem Landgericht. Dies ist die deutlich andere Textfassung zum Vortrag auf der Demo in Karlsruhe am 22.01.2022.

Das gilt ab „sofort, unverzüglich“

Dieser Satz stammt bekanntlich von Günter Schabowski, der damit am 9. November 1989 das Ende der DDR-Diktatur markierte. 32 Jahre, nachdem Schabowski aus einer ganz neuen Verordnung eine ganz neue Reiseregelung zitiert hat, benutzt der amtierende Bundesgesundheitsminister mit seinen nachgeordneten Verwaltungsstäben dasselbe Verfahren: Er verblüfft die Bevölkerung durch nicht diskutierte Verordnungen. Allerdings ist diesmal kein Freiheitsgewinn damit verbunden. Zur Erinnerung an den atemlosen Ablauf in der letzten Woche referiere ich kurz Folgendes – und bedanke mich beim Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte für ihre Darstellung, aus der ich mich bediene.

Ein juristischer Skandal

Große Teile des gegenwärtigen Alltags werden derzeit nicht vom Grundgesetz geregelt, sondern von einer „Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung – SchAusnahmV)“. Dort hieß es in der bis Freitag, den 14. Januar 2022, geltenden Fassung in § 2 Nummer 4: „Eine genesene Person [ist] eine asymptomatische Person, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Genesenennachweises ist“. In § 2 Nummer 5 wurde geregelt, dass der Infektionsnachweis maximal 6 Monate zurückliegen dürfe.

Prof. Thomas S. auf der Kundgebung am 22.01.2022. Eigenes Werk der Offges. Lizenz: CC BY-SA 4.0

Am 14. Januar nun wurde zuerst diese Verordnung geändert, und dann wurden  auf der Grundlage der geänderten Verordnung konkrete Änderungen eingeführt. Über die angestrebten Änderungen laut Verordnung hieß es noch kurz vor der Bundesratssitzung, auf der Internetseite des Bundesrats: “Änderungen gibt es auch beim Genesenennachweis … Die Geltungsdauer soll im Zuge einer europäischen Vereinheitlichung geringfügig kürzer werden und statt sechs Monaten 180 Tage betragen”. Dieser Änderung der Verordnung durch die Bundesregierung hat der Bundesrat unverzüglich und einstimmig zugestimmt.

Doch die Änderungen, die auf dieser Grundlage gleich im Anschluss vorgenommen wurden, sahen gänzlich anders aus: Die Dauer des Genesenenstatus’ wurde von 6 Monaten auf 90 Tage reduziert. Die bisherige wissenschaftliche Evidenz – so das RKI – deute darauf hin, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikronvariante hätten.

Das ist ein juristischer Skandal.

Grundrechte dürfen nicht durch Verordnungen eingeschränkt werden

Seit Beginn aller Corona-Regelungen stand in Zweifel, ob solche Regelungen, die weitreichende Auswirkung auf die Grundrechtsausübung haben, nur in einer Rechtsverordnung getroffen werden dürfen. Es gibt den sogenannten “Wesentlichkeitsvorbehalt” für Gesetze, den man für die hier erfassten Fälle so übersetzen kann: Vorschriften, mit denen der Zugang zur Berufswahl, wichtige Arten der Berufsausübung, die Verfügung über Eigentum, Geld, Glaubensausübung und natürlich wichtige allgemeine Handlungsfreiheiten eingeschränkt oder sogar unmöglich gemacht werden, müssen Gegenstand eines Gesetzes sein, weil Grundrechte nur durch Gesetze eingeschränkt werden können – wenn überhaupt. Gesetze werden beraten, ausgefertigt und öffentlich verkündet. Sie gelten, weil sie im Bundesgesetzblatt oder den Gesetzblättern der Länder veröffentlicht worden sind.

Natürlich braucht dieses Verfahren Zeit, es muss mit Opposition rechnen und kann insofern nicht auf Zuruf an gewünschte Zwecke angepasst werden. Solches Zweckrecht ist Polizeirecht, und als Polizeirecht muss man darüber auch gar nicht viele Worte und Sätze machen, wenn man auf eine Polizei vertrauen kann, die Augenmaß wahrt, Sachkunde hat und gewohnt ist, alltägliche Folgen realistisch einzuschätzen.

Zweckbekämpfung statt juristischer Kompetenz

Diese Kompetenzen fehlen der Bundesgesundheitsverwaltung. Juristisch ohne Maßstab erlaubt sie sich, die eben zitierte Verordnung fast unmerklich und deutlich schneller als ein Gesetz zu ändern. Sie braucht kein Parlament, noch weniger braucht sie Diskussion und alltägliche Folgen sind ihr fern. Man hat dort nur den einen einzigen Zweck vor Augen, “das Virus” zu bekämpfen. Von einem Recht, das mit Recht zur Begrenzung der Bekämpfung von Maßnahmen dienen soll, fühlt man sich nur ungebührlich behindert. Deshalb bevorzugt man, die Verordnung unbemerkt und schnell nach Gutsherrenart zu ändern, indem die Verwaltung sie einfach umformuliert und “im Internet” veröffentlicht. Bisher war das völlig ausgeschlossen.

Jetzt soll das der Regelfall werden. Allein das hätte zur Versagung der Zustimmung durch den Bundesrat führen müssen, wenn eine Person aus den 16 Landesregierungen noch hätte nachdenken können, rechtlich bewandert und mit einer gewissen Zivilcourage ausgestattet wäre. Man muss es jetzt deutlich sagen: Wir brauchen nicht nur ein polizeilich funktionierendes Recht der Zweckverfolgung, wir benötigen auch einen Sinn für ein Zweckverfolgungsbegrenzungsrecht. Recht dient nicht einfach den Zweckvorstellungen einer Mehrheit, es ist wesentlich Minderheitenschutz. Außerdem ist die Rechtsentscheidung – als Entscheidung – in ihren wesentlichen Grundzügen der Volksvertretung, in den Einzelheiten einer dem Parlament verantwortlichen Regierung und im Konfliktfall den Gerichten überantwortet und damit am Ende jenen lästigen “Richterlein”, die so manchem Ärztefunktionär die Geduld rauben.

Wissenschaft kann politische Entscheidung und rechtliche Kompetenz nicht ersetzen

Man muss ebenso deutlich sagen: Die Wissenschaft entscheidet nicht. Als Wissenschaft will sie nicht entscheiden, und sie soll es auch nicht. Dieses Urteil erlaube ich mir als Wissenschaftler, der eine Distanz zur Praxis hält, wie als Praktiker, der eine Distanz zur Wissenschaft achtet. Ich bewohne gerne den Elfenbeinturm und weiß, dass theoretische Innovation nur möglich ist, wenn man nicht dem Entscheidungszwang unterliegt.

Wenn das aber doch geschieht, dann ereignen sich Sachen wie diese Posse des letzten Freitags. Auf der Sitzung des Bundesrats am 14. Januar erklärte der Gesundheitsminister als Vertreter der Bundesregierung, künftig solle nicht mehr das Parlament über die Gültigkeitsdauer des Genesenenstatus’ und die Frage entscheiden, wie lange und mit welchen Impfungen Bürger als vollständig geimpft gelten, sondern das Paul-Ehrlich-Institut und das RKI. Er wird so zitiert:

“Veränderungen finden nur statt ohne politischen Einfluss ausschließlich auf der Grundlage neuer Erkenntnisse, also ohne eine Beeinflussung durch den Minister zum Beispiel. Wir informieren Sie, sodass Sie sich nicht regelmäßig diese Verweisseiten anschauen und prüfen müssen, ob sich da etwas verändert hat. … wenn von Ihnen Einwände vorgetragen werden, dann werden die natürlich berücksichtigt.”

Er pries die Lösung, sie sei gut, denn sie sei flexibel. “Wir können schnell reagieren, wir können immer den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand abbilden, wir haben aber gleichzeitig auch eine rechtlich sichere Grundlage.” Schon für diese rechtlich bewusstlose Aussage hätte man in alter Zeit als Minister den Hut nehmen müssen.

Wissenschaftliche Belege?

Zur Veränderung des Genesenennachweises veröffentlichte das RKI am 15. Januar  drei sogenannte  Belege, von denen sich einer auf die Behörde selbst bezieht, die anderen beiden auf Neil Ferguson, Azra Ghani, Wes Hinsley and Erik Volz: Hospitalisation risk for Omicron cases in England. Imperial College London (22-12-2021) und auf einen Bericht der UK Health Security Agency: SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England. Technical briefing 34. Die britische Untersuchung untersucht die Wirkungen des Impfstoffs und macht Aussagen darüber, dass in einem Zeitraum von mehr als 90 Tagen erneute Infektionen möglich sind.

Es gibt keinen ernsthaft als wissenschaftlich zu bezeichnenden Beleg. Am 21. Januar hat das Paul-Ehrlich-Institut die Ergebnisse einer Frankfurter Studie veröffentlicht. Die Veröffentlichung endet mit dem Satz, die Studiendaten könnten einen Beitrag dazu leisten, Antikörpertests gezielter einzusetzen und SARS-CoV-2-Antikörperbefunde in der täglichen diagnostischen Arbeit richtig zu interpretieren, und schließlich könnten sie “helfen, die Dauer eines möglichen Immunschutzes gegen SARS-CoV-2 zu bestimmen”. Man sieht: Wissenschaftler stützen keine Fristenregelungen. Dabei muss ergänzt werden, dass die Arbeit des RKI wissenschaftlichen Maßstäben sowieso nicht genügt. RKI wie PEI sind Behörden des Gesundheitsministeriums, nicht mehr und nicht weniger.

Folgen von Recht als Screenshot

Neuerdings sollen Grundrechtseingriffe dieser nachgeordneten Behörden weder im Bundesgesetzblatt noch im Bundesanzeiger, sondern auf einer Internetseite erscheinen. Gerichte und Behörden werden Screenshots speichern müssen, um zu wissen, wann was galt. Änderungen sind jederzeit möglich. Selbst die Akademie der Wissenschaften beim ZK der SED hatte diese Möglichkeit nur nach Zustimmung des Politbüros.

Das ist ein absurder Zustand. Anders als man auf den ersten Blick glauben könnte, geht es nicht nur um eine Regelung des Genesenenstatus, sondern um sämtliche infektionsschutzrechtliche Einschränkungen, die daran anknüpfen, dass eine Person geimpft oder genesen ist und die zur Beantwortung dieser Frage auf die COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung verweisen.

Am Tage des Beschlusses wurde nicht nur der Genesenenstatus auf drei Monate verkürzt. Auch die Impfnachweise mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson wurden kurzerhand geändert. Sie wurden nicht mehr als vollständige Impfung anerkannt, was man freilich nur über eine Änderung auf der Seite des Paul-Ehrlich-Instituts erfuhr. Die Einmal-Impfung soll danach allenfalls als halbe gelten oder gar nicht mehr.

Die Verkürzungen betreffen auch die Impfpflicht im Gesundheitswesen, soweit genesene Pflegekräfte den bisherigen Zeitraum hätten ausschöpfen können, ohne sich impfen lassen zu müssen. Auch in Bezug auf bisher einfach oder zweifach Geimpfte wurde das gleiche Regelungssystem gewählt. Nach dem neuen § 2 Nummer 3 COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung darf nun das Paul-Ehrlich-Institut im Benehmen mit dem RKI diese Regelungen bezüglich der Impfung treffen. Auch hierfür wird also nicht der Gesetzgeber, nicht die Regierung, sondern wieder eine Internetseite zuständig sein. Ruft man die genannte Internetseite auf, findet man dort allerdings an dieser Stelle (Stand 20.1.22)  ein Schweigen bezüglich der aktuell zentralen Fragen mit dem: „Hinweis: Derzeit sind noch keine Angaben zu Auffrischimpfungen und entsprechenden Intervallzeiten veröffentlicht.“

Diese Regelung wirft Folgeprobleme auf, eines davon hat die Sozialverwaltung entdeckt, weil viele Obdachlose mit dem Johnson-Impfstoff behandelt worden sind. Man erfährt: Menschen, die auf der Straße leben, für eine zweite oder gar dritte Impfung zu erreichen, sei nun umso schwieriger – zumal die Dokumentation problematisch ist. Denn Impfpässe gingen häufig verloren und bei Weitem nicht jeder Obdachlose besitzt ein funktionierendes Smartphone. Wenn es nicht wirklich traurig wäre, könnte man über diese Realsatire im BMG lachen.

Prof. Dr. jur. Thomas S.

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