Verschwörungstheoretiker und Extremismusexperten im Haus der Erkenntnis

Teil I: Die Figur des Verschwörungstheoretikers in der Extremismus- Forschung

  1. Realitätssimulationen im Zwischengeschoss

Liebe Demonstranten,

gerade habe ich von einer Familie im Bekanntenkreis gehört, dass sie ihre Tochter – 18 Jahre alt – diesen Winter nach einem positiven COVID-Test für zwei Wochen in ihr Zimmer verbannt haben. Das Essen wurde vor die Tür gestellt. Ich will lieber nicht wissen, ob diese Eltern jetzt vielleicht auf Friedensdemonstrationen gehen. Ich kenne Menschen, die sich bis vor kurzem kaum aus dem Haus trauten, sich aber jetzt dicht an dicht auf Demonstrationen drängen. Bis zum 24. Februar, als die russische Armee in die Ukraine einmarschierte, folgten sie dem Ruf von Regierung und Medien, und seit dem 24. Februar folgen sie wieder dem Ruf von Regierung und Medien. Es sind Freunde, und ich verstehe sie nicht.

Manchmal denke ich: Sie leben in einer anderen Welt, sie wohnen in einem ganz anderen Haus als ich. Ich bleibe mal in diesem Bild des Hauses. Es ist, als hätten sie sich eine Zwischenetage eingezogen zwischen oben und unten: Oben im Dachstübchen ist die schwierige Nachrichtenlage, ein Archiv von Texten und Dokumenten. Da ist es eng und man muss mühsam hinaufsteigen. Unten im Erdgeschoss findet das bodenständige Alltagsleben statt, wo wir aufgrund unserer Erfahrungen und Beziehungen ganz gut beurteilen können, ob es jemandem schlecht geht, ob man einem Kranken helfen oder im Kinderzimmer deeskalierend eingreifen muss. In Krisenzeiten muss man dauernd von unten nach oben und von oben nach unten laufen, um Lebenserfahrung und Theorie miteinander abzugleichen.

Aber es gibt diese Häuser mit Zwischengeschoss. Hier ist zusätzlich noch eine weitere Etage eingezogen, wo nicht kritischer Nachrichten- und Dokumentenvergleich oder Lebenserfahrung herrschen, schon gar kein Austausch, sondern zwingende Symbole. Da gab es doch diese Sätze, die im Zusammenhang mit Corona immer wieder gefallen sind: “Ich sah die Bilder von Bergamo, und da war doch klar, dass wir in den Lockdown gehen müssen. Ich will lieber vorsichtig sein, denn die Zahlen gehen wieder hoch!” Die Frage, was die Bilder von Bergamo überhaupt zeigen oder was steigende Meldeinzidenzen überhaupt bedeuten, wird von den Bewohnern der Zwischenetage bis heute nicht gestellt. Man macht einfach, was diese Symbole zwingend anordnen. Mächtige Medien und Politiker mussten nur immer wieder das Wort Solidarität benutzen, die Bilder von Bergamo und die Meldeinzidenzen – und schon sperrten Eltern ihre jugendlichen Kinder ein. Dafür berufen sie sich auf Bilder (weil Bilder authentisch sind und wahr), auf Zahlen (weil Zahlen objektiv sind und wissenschaftlich), auf moralische Fangwörter (denn uns verbinden ja Werte). Und dann exekutiert man Maßnahmen, die sich angeblich zwangsläufig daraus herleiten, die aber mit wissenschaftlicher Evidenz oder kluger Alltagseinsicht nichts zu tun haben. Es sind Realitätssimulationen, und mit ihnen lebt es sich auf dem Zwischengeschoss sehr bequem.

Nur Leugner wie wir treiben sich im ganzen Haus herum und fragen deshalb: Was sollen diese Masken noch mal? Und was soll eigentlich dieser Hühnerstall, den das Ordnungsamt und so viele Polizisten heute um uns herum mit Absperrgittern aufgebaut haben? Was sind das für Symbole? Welche Realität simulieren wir hier? Was ergibt sich daraus? Virensicherheit? Gedankenpolizei? Arroganz der Macht?

  1. Die Figur des Verschwörungstheoretikers als Realitätssimulation

Nun, Hühnerstall und Maske zeigen: Auch wir Demonstranten werden zum Gegenstand von Realitätssimulationen mit zwingender Handlungsanweisung gemacht, nicht nur das Virus. Eine der wichtigsten von ihnen heißt: Demonstranten sind Verschwörungstheoretiker – und zwar immer dann, wenn sie die Regierung kritisieren. Denn sie unterstellen der Regierung böse Absichten, Pläne und heimliche Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie der EU und der WHO.

Die Verschwörungstheoretiker-Forschung boomt: Private Denkfabriken beteiligen sich daran, Parteistiftungen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung, staatliche Behörden wie die Bundeszentrale für politische Bildung und natürlich Universitäten, die dem Wortlaut unseres Grundgesetzes nach zwar in Forschung und Lehre frei sind, die aber de facto abhängig sind von den Drittelmitteltöpfen. Alle diese Akteure simulieren gute Absichten und Gemeinnützigkeit, und alle verdienen damit gutes Geld. Sie bekommen auch viel mediale Aufmerksamkeit. Alle paar Tage erscheint einer dieser Experten in einem der niedrigschwelligen Medienangebote, bspw. in den Hauptnachrichten von ARD und ZDF oder im Deutschlandfunk (wo man nur einschalten muss, um sich informiert zu fühlen) oder in einer Lieblingszeitung wie Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Die Zeit (die man morgens beim Capuccino gerne aufblättert). Mit den Schlagzeilen, die diese Experten dort platzieren, machen sie außerdem auf den Twitter-Accounts anderer gutgläubiger Multiplikatoren Karriere.

Um welche Forschungsrichtung geht es? Die Medien gehen direkt zu sogenannten Extremismusforschern, wenn sie sich über regierungskritische Demonstranten unterrichten wollen. Hier zwischen diesen Absperrgittern wird einem dabei besonders deutlich: Es ist eben doch etwas ganz anderes, ob man ein Huhn aus dem Stall zum Tierarzt bringt oder zum Koch, wenn man etwas erfahren will über Zustand und Verwendbarkeit des Huhns. Sogar die Aktion #allesaufdentisch – diese Interviews mit Wissenschaftlern und Fachleuten – wurde in den Medien von “Experten für Verschwörungsideologien” kommentiert (Augsburger Allgemeine 30.9.2021). Meistens machen sie sich noch wichtiger und nennen sich “Experten für Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus” (RND/epd 2.10.2021). Es sind Experten für das Böse. Sie erforschen, welche heimlichen Absichten und Netzwerke hinter einer Aktion wie #allesaufdentisch stecken und hinter regierungskritischen Demonstrationen. Sie setzen Wissenschaftler und Demonstranten mit gefährlichen Extremisten gleich, und dafür brauchen sie das Fangwort Verschwörungstheoretiker.

Klettern sie auf den Boden der Alltagseinsicht herunter, so viel sei vorweggenommen, dann wird es für sie ganz schwierig. Immer wieder geistert die bodenständige Frage durch die Medien: Wer sind eigentlich diese Leute da, die gegen Corona-Maßnahmen und Impfzwang demonstrieren? In einem Bericht über die Kasseler Demonstration vom 20. März letzten Jahres mit 20 000 Teilnehmern meinte der Bayrische Rundfunk: “Die Demonstranten waren bunt gemischt: Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies und Impfgegner” (BR 20.3.2021) – wörtlich, in genau dieser Reihenfolge.

  1. Kriminalisierung als Forschungszusammenhang

Ich bin Sprachwissenschaftlerin bzw. Linguistin und beschäftige mich mit dem Aufbau und Zusammenhang von Texten. Die textlinguistische Aufgabe ist es, nach dem roten Faden zu suchen, der solche Berichte über Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies und Impfgegner zusammenhält. Dafür habe ich 40 Texte ausgewertet, die nach Befragung der Verschwörungstheoretiker-Forschung in den Massenmedien veröffentlicht wurden. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen: Der Zusammenhang liegt nicht in der Sache, nicht in der Information, noch nicht einmal in der negativen Bewertung und Diffamierung. Er liegt in der Kriminalisierung der Demonstranten und Maßnahmenkritiker. Man erkennt das durch eine Analyse der sprachlichen Handlungen. Fortlaufend rufen diese Experten in den Medien: Schließt sie aus Gesellschaft und Öffentlichkeit aus, brecht die Kontakte zu ihnen ab, vermeidet Diskussionen, verbietet ihnen, sich im Internet und auf der Straße zu äußern, und bestraft sie, wenn sie es trotzdem versuchen. Dafür brauchen sie sprachlich die Verben wollen, können, sollen, müssen, dürfen. Und vor allem brauchen sie, wie für einen Film, die Hauptfigur des Verschwörungstheoretikers. Ich zeige mal, wie sie die Realität dieser Filmfigur simulieren:

  1. Der Verschwörungstheoretiker, Demonstrant und kritische Wissenschaftler ist eine Figur, über die man sich nur empören oder lustig machen kann. Am liebsten befragen diese Experten und Journalisten, gleich am Anfang ihres Berichts, leichtgläubige Menschen aus ihren eigenen Reihen. Sie fordern sie sinngemäß auf: Nennen sie doch mal die absurdeste Behauptung, die sie jemals von einem Querdenker, Corona-Leugner, Impfgegner usw. gehört haben (Chrismon 27.05.2021). Den Sätzen, die dann zitiert werden, sieht man häufig an, dass diese Journalisten und Experten sie selbst frei erfunden haben – so platt sind sie. „Covid gibt es doch gar nicht“ ist eine dieser Behauptungen, eine einfallslose Übersetzung des Schimpfwortes Corona-Leugner. Aufgeregt wird dann festgestellt, dass das – was sie zur Not selbst erfunden haben – im Internet, auf Telegram und auf Demonstrationen verbreitet werden kann/darf, dass das immer noch erlaubt ist (RND 08.04.2021; Chrismon 25.06.21; Correctiv 28.06.2021; Der Standard, 24.09.2021).
  2. Dann wird vor diesen Personen gewarnt, denn “sie sind gefährlich” oder können gefährlich werden (SZ 11.05.2021; Chrismon 27.05.2021). In der Verschwörungstheoretiker-Forschung sind das selbstbewahrheitende Behauptungen. Wer schon in der Überschrift eines Berichts oder einer sogenannten Expertenstudie von “Impfgegnern” spricht, der stempelt die Kritiker von vornherein als radikal ab (ZDF heute 4.12.2021). Man denke an das Wortspiel mit dem “Spinatgegner”: Zu sagen, dass ein “Impfgegner/Spinatgegner sich radikalisiert/radikalisiert hat” oder “radikalisieren konnte”, das ist so viel, wie zu sagen, dass Frauen weiblich sind und Kinder noch nicht erwachsen. Vom Standpunkt der Logik her ist das eine Tautologie. Hier ist es die Wiederholung desselben kriminalisierenden Extremismus-Vorwurfs. Dazu kommen Spekulationen darüber, dass “demokratische Prozesse ins Wanken” gebracht werden sollen, dass diese Figuren auf Telegram mobil machen und immer mehr “Leute auf ihre Seite bringen” wollen, dass ”die Einführung einer Impfpflicht” bei ihnen “zu einer Verstärkung der Gewalt führen” kann (MDR 17.06.2021; de 23.08.2021; Der Standard, 24.09.2021; ZDF heute 04.12.2021; Der Standard 03.01.2022). Solche Berichte sind manchmal unfreiwillig komisch, wenn sich eine Expertin darüber empört, dass die Demonstranten ihr das Wochenende in ihrem ruhigen Stadtviertel verderben (Foreign Policy 13.09.2021), oder dass sie sich beim Familientreffen wieder auf eine endlose Diskussion mit einem Querdenker einlassen muss (Chrismon 25.06.21). Dabei würde sie viel lieber Fotos vom letzten Ski-Urlaub angucken! Auch damit spinnen die Berichterstatter am roten Faden der Kriminalisierung. Denn durch solche persönlichen Belästigungen wird die Empörung angestachelt, und die Warnung: Vorsicht! Diese Leute stören! Es kommen dann
  3. übergriffige Ratschläge, wie man mit den Störern umgehen soll oder darf/kann (falls man noch ethische Vorbehalte hat), auch im privaten Bereich (t-online 04.05.2021; Chrismon 27.05.2021). Da heißt es, ich zitiere: “Setzen sie Grenzen, geben sie ein klares Signal, Manipulation im positiven Sinne ist erlaubt, Loben etwa” ist “sehr hilfreich im Umgang mit Verschwörungsgläubigen … Natürlich dürfen sich Kontakte verändern” (Chrismon 25.06.21). Das steht in einem Magazin der evangelischen Kirche. Sie fordert zu Manipulation auf, zu Diskussions- und Kontaktabbruch – sogar im engsten Freundes- und Familienkreis. Im weiteren Textverlauf wird die Erziehung zum Guten und zum Wahren auf den öffentlichen Bereich ausgedehnt. Die Berichte malen ein schmutziges “Milieu” von Demokratiefeinden, in das man ganz schnell “abrutschen/abgleiten” kann und gegen das man etwas unternehmen muss (Tagesschau 01.10.2021; RND/epd, 02.10.2021). Es wird bspw. getitelt: “Eine Rentnerin geht dahin, wo es schmutzig ist”, und darauf folgt die Heldengeschichte einer Frau, die auf Twitter nach verdächtigen Postings fahndet, um sie anzuzeigen. Jeder solle diesen Corona-Leugnern ein kräftiges “Nie wieder! ins Gesicht rufen” (Chrismon 25.06.21). Dieser bekannte geschichtliche Vergleich des “Nie wieder!” – also: Nie wieder Faschismus! – ist mit der bekannten Doppelmoral nur diesen Experten erlaubt. Sie benutzen ihn für die medienwirksame Kriminalisierung der Maßnahmenkritiker. Vollendet wird die Kriminalisierung schließlich, indem
  4. die befragten Extremismusexperten erzählen, bei welchen Verbrechen Polizei und Staatsanwaltschaft bereits versagt haben. Dazu berichten sie vom Tankstellen-Mord in Idar-Oberstein, von der Stürmung des Capitols in Washington oder einem Fackelaufmarsch vor der Wohnung eines Politikers (Spiegel 21.09.2021; Der Standard, 24.09.2021; Tagesschau 01.10.2021; ZDF Frontal 05.10.2021; RND 27.10.2021). So wenig diese Verbrechen und Delikte mit der Corona-Maßnahmen- und Impfkritik auch zu tun haben: Von diesen Experten werden sie als “Beleg/Ausdruck” dafür gewertet, dass sich ihre Lieblingsfigur des Verschwörungstheoretikers “radikalisiert”. Und einen solchen “Beleg” wiederum nehmen sie als Anlass dafür, aktiv auf die Strafverfolgungsbehörden zuzugehen, sie, wie sie sagen, direkt anzusprechen (DLF Kultur 30.03.2021; t-online 04.05.2021; Jungle World 30.09.21). Der Experten erstellen Twitter-Profile, die sie als potentielle Täterprofile interpretieren. Die Behörden sind schon darauf vorbereitet. Sie wissen, was sie tun müssen (Der Standard, 24.09.2021; RND 27.10.2021): Wenn Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies und Impfgegner demonstrieren – wie es der Bayrische Rundfunk berichtete – dann sorgen die Behörden mit Masken-, Abstands- und Hühnerstallsymbolik für das, was sie “Phänomenübergreifende Extremismusprävention” nennen.

 

Die Bilder von Bergamo und die Meldeinzidenzen zeigten uns also, wie gefährlich das Virus ist – und was wir dringend tun müssen. Jetzt zeigt uns die Forschung an dieser kriminologischen Figur des Verschwörungstheoretikers, wie gefährlich Demonstranten und Maßnahmenkritiker sind – und was Gesellschaft und Staatsgewalt dringend mit ihnen tun müssen. So erklärt sich die aggressive Stimmung an den Rändern der Demonstrationen und die Gewalt von vermummten Schlägertrupps, von denen Demonstranten angegriffen werden. So erklären sich die Schlachtfelder an den häuslichen Kaffeetischen, Ehescheidungen sogar, und auch die starrköpfigen Reaktionen der allermeisten Richter und bei der Polizei, die Diskussionsverweigerung in den Schulen, an den Universitäten, überall.

 

 

Teil II: Extremismusexperten, Expertenextremismus und eine Alternative

 

  1. Extremismusexperten und Expertenextremismus

 

Ich erlaube mir noch, der Figur des Demonstranten, Extremisten und Verschwörungstheoretikers ein Gegenbild hinterher zu schicken – ein Bild von den Extremismusexperten selbst. Ich halte dieses Bild für realistischer, weil man es aus den publizierten Forschungsergebnissen methodisch herausarbeiten kann. Alles, was ich gesagt und zitiert habe, ist belegt (hier nur an Beispielen).

  1. Aus empirischen Befragungen, so sagen die Experten, sei als Forschungsergebnis hervorgegangen: Wer gegen die COVID-Impfpflicht auf die Straße geht, will sich nicht impfen lassen. Wer Opposition auf der Straße macht, der wählt oft eine Oppositionspartei (CeMas 17.02.22). Das heißt: Die Experten geben Selbstverständlichkeiten als Forschungsergebnisse aus. Aber das, was schwierig ist, erforschen sie nicht.
  2. Da sie außer Korrelationen keine Zusammenhänge finden zwischen dem Extremismus und den Maßnahmenkritikern, konstruieren sie welche. Dafür überinterpretieren sie zeitliches und räumliches Zusammentreffen. Sie nehmen z.B. den Mörder von Idar-Oberstein, der vielleicht gar kein Extremist war, sondern psychisch krank. Für sie war er ohne Frage ein Extremist. Der Mörder habe, bevor er zur Tat schritt, die Webseiten von Autoren- und Wissenschaftsblogs im Internet besucht (Achse des Guten, um mal ein Beispiel für “Gefährlichkeit” zu nennen). Die Autoren und die Leser dieser Webseiten (Journalisten, Wissenschaftler, Familien, Hippies, Selbständige, ihr wisst schon) werden dadurch alle auf einen Schlag zu potentiellen Mördern erklärt (ZDF heute live 21.09.2021, ab min 8.43). So werden Kausal- und Sachzusammenhänge simuliert, und die können immer noch unsinniger werden:Die Impfgegner (also: die radikalen, gefährlichen Impfgegner), die vom Immunsystem reden, die würden die menschliche Natur idealisieren. Das aber bedeute “Menschenfeindlichkeit”. Impfgegner meinen, man dürfe sich “nicht einmischen, wenn Menschen sterben, etwa an Corona”. Sie lassen es geschehen, dass Menschen sterben, und das bilde die “Brücke zu völkischen Bewegungen” und zur rechtsradikalen Gesinnung. Wenn ich so etwas lese, dann verstehe ich schlagartig, warum sich diese Spezialisten Experten “für Irreführung und Desinformation” nennen (Chrismon 25.06.21).
  3. Aus solchen empirischen Umfragen und Theorien darüber, wie man zum Mörder wird, schlussfolgern sie: Zwischen 25 und 30 % der Bevölkerung tendierten in Deutschland zu “Verschwörungstheorien” (Tagesschau 19.02.2021). Das ist wieder ein Appell an die Strafverfolgungsbehörden. Kaum muss man hinzufügen: Wer diejenigen als völkische Extremisten bezeichnet, die von einem Immunsystem gegen Erkältungskrankheiten sprechen oder einem unabhängigen Autorenblog folgen, der verharmlost selbst den Nationalsozialismus. Wer öffentlich dazu aufruft, fast ein Drittel der Bevölkerung unter strafrechtliche Beobachtung zu stellen, der verbreitet selbst extremistisches Gedankengut.
  4. Wenn sich die Experten ihre korrelativen Pseudo-Sachzusammenhänge ausdenken, dann verdrehen sie Ursache und Wirkung. Vor ein paar Wochen hieß es in einer „Studie“ über Impfgegner und ihre Demonstrationen: Angeblich würden sie “die Einführung einer Impfpflicht … schon jetzt für die Mobilisierung” von neuen Anhängern nutzen. Das ist natürlich “besorgniserregend” (CeMas 17.02.22), weil die Gefahr von Demonstrationen nun einmal darin besteht, dass sie größer werden. Aber der Sache nach verdrehen die Experten hier Ursache und Wirkung. Sie unterstellen, dass die sogenannten Impfgegner selbst an einer Impfpflicht interessiert sind (wie Spinatgegner an einer Spinatpflicht), weil sie dadurch neue Anhänger für ihren Radikalismus anwerben können. Auch das weist wieder nur zurück auf die Kriminalisierungstechnik dieser angeblich gemeinnützigen Forschung. Denn es bedeutet: Diese Experten – nicht die Demonstranten! – behalten sich vor, jeden neuen gesellschaftlich-politischen Konflikt zu benutzen, um mobil zu machen gegen fast 30 % der Bevölkerung (MDR 17.06.2021; de 23.08.2021; RND 27.10.2021; “Klimawandel” wird ausdrücklich erwähnt).
  5. Zu erwähnen bleibt schließlich die Psychopathologisierung der Demonstranten: Sie erklären sie ja für verrückt (Correctiv 28.06.2021). Nicht nur der Gesundheitsminister behauptet, für Impfgegner bedeute seine Impfpflicht eine psychische “Erleichterung”. Die Experten haben ihm dafür das Stichwort gegeben. Denn sie meinen, durch eine Impfpflicht könnten die Impfgegner es auf den Staat schieben, wenn sie sich am Ende doch impfen lassen (ZDF heute 04.12.2021). Die Pflicht verschafft ihnen ein Gefühl von Freiheit – da sie doch selbst beim Gedanken an den kleinen Pieks unter lauter Zwangsvorstellungen leiden! Solche Anmaßungen geben mir den besten Aufschluss über die Qualität der gesamten “Forschungsrichtung”:

Die unplausiblen Sachzusammenhänge, die sich diese Forscher da zusammenreimen, können sie durch Psychologisierung in ihr Untersuchungsobjekt hineinprojizieren. Der Zusammenhang ist unsinnig, weil die Verschwörungstheoretiker und Impfgegner nicht ganz bei Trost sind. Die Experten verbergen mit der Methode ihr eigenes Unvermögen. Auch die Kriminalisierung profitiert davon. Denn wer psychische Probleme hat, den kann man schnell für unberechenbar und gefährlich erklären. Verhöhnen tun sie die Demonstranten sowieso. Am Gesundheitsminister und der großen Medienpräsenz sehen wir außerdem: Die Experten finden für solche Realitätssimulationen immer einen Abnehmer. Je verrückter, je unzusammenhängender, desto eher finden sie jemanden, der ihnen das abkauft und nachplappert. So finanzieren sie sich! Diesen Forschungsaufwand genehmigen wir uns, das lassen wir uns was kosten!

 

Das Empörendste daran ist aber, dass mit all dem kein einziges Problem gelöst wird. Man muss sich nur vor Augen halten, was ein Bürgermeister, der samt Familie und Kindern tatsächlich von Extremisten bedroht wird, oder was die Opfer des NSU von dieser Art von Forschung haben, was sie ihnen nützt und was sie davon halten. Wir haben es schon bei Regierungs-Virologen, Prozessmodellierern und Ethikprofessorinnen gesehen: Auch die teuren Extremismusforscher sind nicht in der Lage, einen Gegenstand wissenschaftlich einzugrenzen, relevante Fragestellungen zu formulieren und sie mit passender Methode zu untersuchen. Sie schüren nur eine paranoide Stimmung in der Bevölkerung und bei den Behörden: An die 30% sind gefährlich und böse! Und man erkennt die Bösen noch nicht einmal, denn sie treten ja als Familien, Hippies, Unternehmer, Wissenschaftler und unabhängige Journalisten auf; sie verstecken sich im Internet. Alle sind verdächtig. Und mit dieser Stimmung, ich will es nochmal erwähnen, geht Deutschland gerade in einen Sanktionskrieg gegen den russischen Überfall – man hat den Eindruck, in einen Krieg gegen alles Russische überhaupt.

 

Wie gehen nun wir Demonstranten mit all dem um? Was können wir tun (что делать / schto djelatj, heißt es auf russisch)? Wir sind ja Zeitgenossen, und da muss man aufpassen, dass man nicht in genau dieselben Muster verfällt. Nicht, dass wir auch so auftreten, als wollten wir die ganze Welt retten und andere zu besseren Menschen erziehen. Ich will keine Bekenntnisse nachplappern und Symbole der allerbesten Absicht vor mir hertragen. Man muss auch aufpassen, dass man sich nicht selbst dauernd auf billige Weise über andere lustig macht oder in eine Dauerempörung verfällt. Auch bringt es nichts, mit grandiosem Alarmismus vor der großen Gefahr solcher Realitätssimulationen zu warnen. Drohungen verbieten sich erst recht, weil der Protest der Demonstranten gewaltfrei ist.

 

  1. Antidisziplin als Alternative

 

Die teuer bezahlte Realitätssimulation dient – besonders in Krisenzeiten – dazu, die pluralistische Gesellschaft zu disziplinieren, zu kontrollieren. Deshalb muss ich an dieser Stelle noch etwas über Antidisziplin sagen. Antidisziplin ist ein Konzept, das der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau 1980 in seinem Buch über die “Kunst des Handelns” entwickelt hat. Certeau meint:

 

Wir sind Konsumenten, wir sind Medienkonsumenten, das stimmt. Aber Konsumenten sind nicht passiv. Dieses Vorurteil vom trägen, denkfaulen Zuschauer an den Bildschirmen auf dem Zwischengeschoss wird von der Medienindustrie selbst geschaffen. Die Medienproduzenten sind es (wie auch manche Universitätsprofessoren), die sich gerne in der Vorstellung wiegen, sie würden das Land informieren und bilden, sie würden ihre Adressaten erziehen und sie müssten es ihnen immer einfach machen, weil diese Menschen “nur ihre tägliche Ration” abgrasen “wie eine Hammelherde” (Certeau 1988, 294). Certeau entwirft ein ganz anderes Bild. Er vergleicht den Medienkonsum (und den Konsum überhaupt) mit der Kolonialisierung. Die Geschichte zeigt, dass die indigene Bevölkerung aus der jeweils neuen Kultur, der sie sich beugen musste, immer etwas anderes gemacht hat. Sie unterwanderte den Kulturimperialismus nicht, indem sie die neue Kultur ablehnte oder als solche zielgerichtet veränderte. Sie veränderte sie, indem sie sie ihren eigenen Zwecken “listenreich” und leise anpasste. (Man kann das an den Kreolsprachen sehen). Das nennt Certeau “Antidisziplin” (ebd. 13-16): den produktiven, kreativen und subversiven Umgang mit Konsumprodukten, die uns mit lautem Spektakel zur Passivität verdammen sollen, zum bloßen Wiederkäuen und vor allem dazu, alles mitzumachen.

 

Diese leise und trickreiche Aneignung ist ein “Wildern”, so sagt Certeau (ebd. 293 ff.). Jedesmal, wenn wir vom Alltag zu Wissenschaft und Nachrichtenkritik nach oben ins Dachstübchen laufen und von dort wieder zurück ins Leben, müssen wir sowieso die Zwischenebene der medialen Realitätssimulationen queren. Wir leben ja doch alle in einem Haus, wir kommen an den smarten Dashboards und Herz-Schmerz-Geschichten, an den großen Experten und Weltenrettern nicht vorbei. In der Figur des dummen und bösen Verschwörungstheoretikers, die dort täglich ihr Bett neu aufgeschüttelt bekommt, werden wir uns selbst immer wieder begegnen müssen. Das ist eine gute Gelegenheit zu wildern! Wir nehmen uns diese böse Figur, die Bilder von Bergamo, die Zahlen der Meldeinzidenzen, ein Wort wie Solidarität, die Einschüchterungsversuche … und wir machen etwas anderes daraus. Die politische Kunst besteht in der “Findigkeit der Schwachen, Nutzen aus den Starken zu ziehen” (ebd. 20 f.).

Ich hoffe hier auf die Jugend, man mag gegen sie sagen, was man will. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass wir sie schon viele Jahre vor die Bildschirme von Smartphone, Tablet und Spielekonsole ins Zwischengeschoss ausgelagert haben. Doch die Kreativität und das Spielerische wird man ihnen nicht austreiben können. Deshalb ist es weiter wichtig, dass wir da sind, dass wir in die Öffentlichkeit gehen, dass wir sichtbar sind. Denn Jugendliche werden sich noch lange an das erinnern, was sie hier sehen. Deshalb danke ich euch für das bunte, kreative Bild, das wir alle zusammen abgeben,

liebe Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies, Impfgegner und vor allem liebe Rentnerinnen, die ihr dahin gegangen seid, wo es richtig schmutzig ist!

Katja aus Frankfurt am Main.

Als Rede erstmals gehalten am 12.03.2022 in Wiesbaden.

Literatur: Michel de Certeau (1988): Kunst des Handelns (frz. 1980). Berlin (Merve Verlag)

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